23.11.2005

Kinderkunst: Visualisierung innerer Welten.


„Kinderkunst“, das assoziiert man erst einmal mit bunten Blumen, Sonne, fröhlichen Farben, Unbeschwertheit. Doch auf diese banale Gleichung lässt sich Kinderkunst nicht reduzieren. Das zeigt diese Ausstellung auf eindrucksvolle Weise. Die Bildwerke, die Sie hier sehen, sind unter Anleitung des Malers Helmut Jahn und den jeweiligen Betreuern mit den Kindern der Spessart-Klinik in verschiedenen Projekten entstanden.

Ziel aller Kunstaktionen war, dass sich die jungen Patienten aktiv mit Kunst auseinandersetzen – und darüber mit der eigenen Person. Der Umgang mit Kunst wird von uns verstanden als die Hinwendung zum Menschen,  zu seinen Interessen, Problemen, Ängsten und Wünschen.

Dabei geht es nicht um Leistung, sondern um schöpferisch-spielerisches Tun. Die Beschäftigung mit Kunst schafft Erfolgserlebnisse und fördert Kreativität, bietet Möglichkeiten der Entspannung und des Sichauslebens.

Kunst entsteht aber nicht nur auf der Leinwand, in der Werkstatt oder im Atelier; Kunst entsteht vor allem auch mental. Kunst ist plastisch, konkret und abstrakt zugleich. Kunst provoziert und animiert.

Im Kopf des Betrachters löst die Auseinandersetzung mit Kunst Konflikte oder Freude aus. Dabei ist es erst einmal unerheblich, ob die Kunst selbst gefällt, provoziert, zum Nachdenken anregt oder verwundert. Was zählt an Kunst, ist die in ihr enthaltene Aufforderung zur Auseinandersetzung. Aktiv oder passiv. Bewusst oder unbewusst.

Kunst schlägt eine Brücke zwischen der inneren und der äußeren Welt, die – in Farbe und Form manifestiert – bleibt. Das Kind erschafft mit seinem Werk etwas Dauerhaftes. Damit legt sich das Kind ein Stück fest. Das stärkt das Selbstbewusstsein und macht stark.

Gleichzeitig verlangt die künstlerische Beschäftigung nach Ruhe, Innehal-ten, sich einlassen, sich konzentrieren. Kunst fordert Auseinandersetzung und Konfrontation mit sich selbst. Damit wird Kunst zur „Stimulans des Le-bens“, wie es Friedrich Nietzsche formulierte. Auch Arthur Schopenhauer sieht Kunst als positive und beruhigende Empfindung. Ihm zufolge wirkt Kunst als ein Beruhigungsmittel.

Für den Patienten ist Kunst ein visuelles Medium, das anregt und beruhigt, schmeichelt und befreit, konfrontiert und Gefühle ausdrückt. Beeindruckend ist dabei an “Kinderkunst” vor allem, wie unmittelbar und direkt dies geschieht.



Im Juni 2003 lief das erste Projekt in der Spessart-Klinik mit dem Maler Helmut Jahn und Kindergruppen der Erzieherinnen Iris Hessberger und Stefanie Hoffmann an. Bei verschiedenen Workshops, die unter der fach-kundigen Leitung des Malers Helmut Jahn standen, entstanden Bilder, in denen die Emotionen der Kinder greifbar werden. Im Alter von 9 bis 12 Jahren schufen die Kinder mit ihren Werken Abbilder ihrer inneren Gefühlswelt.

Vordergründig ging es in den Malaktionen darum, Kinder, die sonst nur über wenige Ausdrucksmöglichkeiten verfügen, aus dem Klinikalltag her-auszulösen. Dabei sollte der besondere Augenmerk auf der Schaffung von künstlerischem Raum liegen, in dem die Kinder ihr schöpferisches Poten-tial ausleben und ihre Phantasie entdecken konnten. Ziel der Workshops war es, die Kinder künstlerisch zu fordern und ihnen über ihre eigene  Kreativität neue Ausdruckswege aufzuzeigen.

Wie stark die Kinder ihre inneren Emotionen mit Hilfe der Bilder ausdrück-ten, lässt sich anhand der hier gezeigten Bilder verdeutlichen. Das folgen-de Bild, das große rote Herz, trägt den Titel „Abschied“. Gemalt wurde es von einem 11-jährigen Mädchen, dass große Probleme hatte, sich anderen Menschen zu öffnen. Die gelbe Umrundung des Herzens kommentierte es mit den Worten: „Mein Herz ist ganz gefangen. Aber etwas von meinem Herzen lasse ich hier, ein Stück davon bleibt immer bei Euch“.

Paul Klee hat den bekannten Satz geprägt, dass wahre Kunst nicht das Sichtbare wiedergibt. Genauso geben Kinderzeichnungen auch oft nicht das wieder, was das Kind in der Realität gesehen hat, sondern wie es die Dinge in der Realität gesehen und empfunden hat. In den hier gezeigten Bildern wird sichtbar, dass das Kind die Kunst an Stelle der realen Sprache benutzt und uns so an seinem Erleben teilnehmen lässt. Dies wird auch an der Arbeit „Mutter- und Kind-Delphin schwimmen durchs Meer“ deutlich.

Das Bild zeigt zwei Delphine, die in vertrauter Gemeinsamkeit durch das offene Meer schwimmen. Den einen Delphin malt das Kind in schwarzer Farbe, den anderen Delphin mit Rot. Der rote Delphin scheint spielerisch etwas auf dem Meeresboden zu suchen. Er symbolisiert offenbar ein Kind. Der schwarze Delphin, offenbar die Mutter, scheint gerade sicher seine Bahnen durch das Wasser zu ziehen. Über die scheinbar vertrauenserwe-ckende Situation setzt das Kind lange rote Farbspritzer, als wollte es zei-gen, das der Schein trügt.

Die Farbspritzer wühlen die Gesamtkonzeption des Bildes auf, sind eine Störung der Harmonie. Damit wird die ursprüngliche Verbundenheit der beiden Tiere in Frage gestellt. Dies unterstreicht auch die unterschiedliche Farbwahl  beider Tiere. Dadurch artikuliert das Kind den Kontrast beider Delphine, die offensichtlich nicht nur geschlechts- und altersspezifische Unterschiede, sondern auch grundlegende Differenzen aufweisen. Das Kind lässt das rote Tier spielerisch auf den Boden blicken, etwas suchen. Keinen Widerstand, kein Hindernis, es ist geborgen in seinem Element. Das schwarze Tier zieht seine Bahnen davon unbeeinflusst durch das Wasser. Beachtet diese Mutter ihr Kind?

Unser kleiner Künstler stammt aus einer problematischen Familiensituation. Dieses Bild symbolisiert nicht zuletzt die als traumatisch erfahrene Mutter- Kind Beziehung des Kindes.

Die hier ausgestellten „Kreuz-Bilder“ sind im Rahmen eines Unterrichtsprojektes mit Schülern aus dem Heilpädagogischen Zentrum (HPZ) der medinet Spessart-Klinik unter der Anleitung von Christoph Lingelbach entstanden. Die im HPZ be-treuten Kinder sind im Alter von 6-12 Jahren und haben einen erhöhten Förderbe-darf. Besonders auffallend sind viele der hier behandelten Kindern in ihrem Emoti-onal- und Sozialverhalten.

In der Konsequenz zeigen viele Kinder abweichende Reaktionen wie aggressives oder sehr zurückgezogenes Verhalten, erhöhte Gewaltbereitschaft oder massive Lernblockaden. Im Regelschulsystem können die Kinder nicht angemessen be-treut werden. Sie gelten als unbeschulbar und drohen, aus dem Regelschul- system herauszufallen. Da die Aufnahme in die Sonderschule bis heute auch langfristig mit gesellschaftlich-sozialen Nachteilen verbunden ist, ist das HPZ be-sonders bemüht, die Rückschulung der Kinder in die Regelschule zu erreichen.

Der Unterricht in der Abteilung „Schule im HPZ“ orientiert sich an einem entwick-lungspädagogischen Konzept, in dem die Schüler nach Wochenthemen unter-richtet werden. Das Malprojekt mit Helmut Jahn entstand aus dem Wochenthema „Gefühle“. Begleitend zu thematischen Unterrichtseinheiten fand es an vier Tagen statt. Die Schüler sollten ihren Gefühlen mittels der eigenen Kreativität Ausdruck verleihen. Über den Weg der Kunst konnten die Kinder auf ergreifende Weise ei-nen Teil ihrer teils traumatischen Erfahrungen aufarbeiten und verarbeiten. Mit Hil-fe von Farbe und Pinsel waren die Kinder in der Lage, Emotionen, die sie selbst als unbeschreibbar, als unsäglich empfanden, auszudrücken.

Die hier gezeigten Werke sind in ihrer Aussage erstaunlich direkt. Sie zeigen vor allem, wie stark die Kinder ihre inneren Ängste mit Hilfe der Bilder verarbeiten. Ei-nes der Kinder hatte seine gesamte Familie durch Unfall oder Tod verloren. In ihrer Offenheit sind die Bilder ein deutlicher Entwicklungsschritt zurück in das Schulsystem gewesen. So sind denn auch alle Schüler bereits erfolgreich zurück-geschult worden.



Das ausgestellte Projekt „Farbräume – Phantasieträume“ wurde im Spät-sommer 2004 mit einer Mädchengruppe von Iris Hessberger verwirklicht. Die Idee entstand bei einer Diskussion über mögliche Malaktionen zum Tag der offenen Tür mit Katrin Blum und Helmut Jahn. Fasziniert über die Aus-drucks- und Auslebe-Möglichkeiten dieses Projektes beschlossen wir, es nicht am, sondern vor dem Tag der offenen Tür zu realisieren.

Bei den Bildern handelt es sich um Farbphantasien, die in zwei Entwick-lungsschritten entstanden.  Zunächst wurden die Farbräume mit Pappstü-cken unter Verwendung von jeweils drei Farben grob gespachtelt. Pro Tableau arbeiteten 3-4 Mädchen in einer Gruppe zusammen an „ihrem“ Bild.

Zunächst erlebten wir mit den 10-12 Jahre alten Kindern ein kontrolliertes, behutsames Vorgehen. Mit zunehmender Vertrautheit der künstlerischen Medien begannen die Kinder, sich so richtig in der Farbe auszutoben. Ab-sichtslos, spielerisch gaben sie sich den Farbräumen hin, waren experi-mentell und vertieft. Gleichzeitig erfor-dert unser Vorgehen auch Stille und Konzentration, Auseinandersetzung und Konfrontation mit sich selbst. Es ging darum, die Farben kommen zu lassen, aus ihnen einen ganzen, einen eigenen Farbraum entstehen zu las-sen. Den Farbraum wirken zu lassen, den Farben Freiheit zu geben.



In einem zweiten Schritt trafen wir uns in den Gruppen vor den Bildern wieder. Nun ging es darum, in den gemalten Farbräumen das noch Verborgene zu entdecken. Zu erleben, was noch alles in einem, in den Bildern steckt.

Wir suchten nach Märchenfiguren, Waldbewohnern, Buchstaben, Häu-sern, Blumen. „Sieh mal, hier ist eine Maus!“ rief ein Mädchen, ein anderes hatte gerade ein großes Männchen entdeckt.

Unser Vorgehen war spielerisch, nicht aufarbeitend. Dennoch ist es auffal-lend, wie sehr die fertigen Bilder eine stark variierende Gruppendynamik be-inhalten und wie unterschiedlich die je-weiligen Farbräume bearbeitet wurden.

„Künstler wird man aus Verzweiflung“
(Ernst Ludwig Kirchner)

„Kinderkunst – Visualisierung innerer Welten“ ist als Wanderausstellung mit 15 Bild – und 5 erläuternden Texttafeln sowie einer Dokumentation konzipiert, die Sie auch für Ihre Institution für einen bestimmten Zeitraum „ausleihen“ können.

Die Wanderausstellung wurde bisher an folgenden Orten gezeigt:

Oktober 2004, medinet Spessart-Klinik Bad Orb, www.spessartklinik.de
November 2005, Kopernikusschule Freigericht, www.ksf.de
Dez. 2005 – Jan. 2006, Klinikum Bamberg, www.klinikum-bamberg.de
Mai 2006, Gesamtschule Gummersbach, www.gesamtschulegm.de
Aug. – Okt. 2006, Marienkirche Gelnhausen, www.sprengel-hanau.de








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